Denken

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Was ist Denken? Es soll hier der bescheidene Versuch gewagt werden, dieser Frage auf die Spur zu kommen. Viele Spuren wurden im Laufe der Geistesgeschichte schon gezogen. Und immer wieder werden neue Versuche unternommen. Nicht, um die Frage irgendwann endgültig zu lösen, sondern um sie immer wieder neu zu bewegen. Ich möchte im Folgenden Aspekte der Wesensherkunft des Denkens, nicht die Evolution der physiologischen Grundlage des Denkens beschreiben. Denn die Wesensherkunft zeigt Perspektiven für den weiteren Fortschritt des Denkens auf - und diesen brauchen wir, um über eine Ethik des modernen, individuellen Menschen reden zu können.

In der Geschichte des Denkens fällt auf, dass frühe Äusserungen des Denkens meist religiös gefärbt waren. Denkinhalte als Reflexion des Wahrgenommenen waren verwoben mit Götterbildern und Göttergeschichten. Man denke an die Veden, die Bhagavatghita, Darstellungen aus dem alten Ägypten oder Homer.

Es ist ein grundlegender  Unterschied, ob Helios im Sonnenwagen über den Himmel zieht, oder die Erde um einen Gasball kreist, in dem Wasserstoff mit Helium reagiert. Ob Eos den Tag ankündigt, oder durch die Streuung des Lichts in der Erdathmosphäre der Himmel zu gewissen Zeiten rot gefärbt wird. Ob Athene dem Krieger den entscheidenden Gedanken eingibt oder die durch den hohen Adrenalinspiegel gesteigerte Aufmerksamkeit zu Höchstleistungen führt. In der Natur wurde weniger das Naturgesetztliche und mehr das Wesenhafte der Naturerscheinungen bedacht. Erst im alten Griechenland entsteht eine Philosophie, die sich der Logik und damit den Naturgesetzen annähert. Selbst im Mittelalter und den frühen Zeiten der Renaissance spielt das Göttliche im Denken eine zentrale Rolle. Mit der Renaissance verschwindet dieser Aspekt nach und nach. Das Denken kehrt den Blick von den Göttern ab und richtet ihn auf die Natur. Leonardo da Vinci war nicht nur Maler religiöser sujets, sondern Erfinder von verschiedensten technischen Apparaten. Diese Kehre war die Voraussetzung der Modernen Naturwissenschaft und Technik.

Es scheint aus dieser Entwicklung, als hätte sich das Denken aus dem Geistigen selbst in den Menschen hineinversenkt und sich so dem Verstehen des Naturgesetzlichen zu Verfügung gestellt. Der geistige bzw. göttliche Ursprung des Denkens hat sich verstellt und den Menschen auf einen Weg der Individualisierung gebracht. Als autonomes und logisch denkendes Wesen, ist der Mensch in der Lage, seinen eigenen Willen zu ergreifen.

Heidegger bezeichnet die jeweilige Art und Weise des Denkens als Ausdruck des "Geschicks". Das Gestell, das das Sein des Seienden und somit den geistigen Ursprung des Denkens verstellt, ist eine Schickung des Geschicks.[1] Und diese Schickung führt den Menschen in die Freiheit und Autonomie. Aber auch ins Chaos, da die Frage, was mit dieser Autonomie anzufangen ist, mit diesem Denken nicht gelöst werden kann. Die Ironie des Schicksals ist, dass unser Denken wieder in die Nähe seines geistigen Ursprungs kommen muss, denn erst im geistigen Denkerlebnis öffnet sich der Zugang zum Wahrnehmen des Geistes in anderen Menschen und in der Natur. Und dieser Geist ist es, der uns im Handeln Orientierung und somit eine Grundlage der Ethik gibt.

Die Weiterentwicklung des Denkens ist demnach eine Grundlage ethischen Handelns. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend…



[1] Z.B. Martin Heidegger: „Die Frage nach der Technik“, Seite28, in „Vorträge und Aufsätze“, Klett-Cotta, 2004