Ethik

Ethik II: Das Individuum

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„Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum Spiele des Schaffens meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n Willen will nun der Geist, s e i n e Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“[1]

Wenn wir uns emanzipieren und weder von der Natur, noch von Vorschriften das Leben diktieren lassen, bleibt uns nichts übrig, als selbst die Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Aus dem Vakuum erhebt sich das Individuum. Gesetz und Trieb sind Instanzen, die uns letztlich vor uns selbst entfremden. Das ist unbequem, da es keine Ausreden mehr zulässt. Der Staat als Repräsentant des Gesetzes droht die Verantwortung zu übernehmen: durch Verkehrsregeln, Konsumentenschutz, … Die empirische Naturwissenschaft erklärt uns und unsere Taten zugleich zu Ergebnissen einer logischen Kette von Ursache und Wirkung – uns gibt es garnicht.

Trieb und moralisches Gesetz sind zugleich von großer Bedeutung und Relevanz. Ohne sie würde unser Zusammenleben nicht funktionieren – und wird es auch weiterhin nicht. Dennoch müssen wir den nächsten Entwicklungsschritt machen – und der heißt Selbstverantwortung. Hier beginnen naturgemäß die Fragen: Wer bin ich? Wie handle ich als Individuum? Was ist meine Antwort? Ohne diesen Fragen näherzukommen, wird dieser Schritt nicht gelingen. Selbsterkenntnis ist also eine Bedingung für diesen ethischen Individualismus.[2]

Es kann nicht darum gehen, wie man dieses oder jenes im Allgemeinen macht, sondern nur darum, wie eine ganz bestimmte Person in einer ganz bestimmten Situation es macht. Das Ergebnis kann sein, dass diese bestimmte Person in dieser bestimmten Situation eine allgemeine Regel befolgt – z.B. bei einer roten Ampel stehenbleibt. Oder das Ergebnis kann auch sein, dass diese bestimmte Person in dieser bestimmten Situation einem Trieb gehorcht, der eben zu dieser Situation gehört. Es kann aber auch sein, dass jemand völlig unkonventionell handelt und dadurch etwas Neues hervorbringt. Diese individuelle Note ist nicht gebunden an besondere Situationen (z.B. das Verfassen eines Textes) sondern kann sich im alltäglichsten Alltag vollziehen. Eine hohe Kunst ist es, allgemeine Erkenntnisse auf individuelle Art und Weise in alltägliche Handlungen zu gießen und so die Umgebung zu gestalten. Die allgemeine Erkenntnis entspringt dem Denken, die individuelle Art und Weise dem Individuum mit seinen Gefühlen und seinem Geschmack, die Handlung entspringt dem Willen als impulsgebende Kraft.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Geist und Materie bewusst verbinden kann und dadurch gestaltet – oder anders gesagt: Geist in die Materie bringt. Dabei kommt es eben nicht darauf an sich einem Allgemeinen unterzuordnen, sondern das allgemeinste im Denken bis in das konkreteste im Handeln zu tragen – aus Erkenntnis handeln eben.

Was bedeutet das konkret? In erster Linie ist damit gemeint, die volle Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen und sich nicht den Automatismen der Triebe und moralischen Konventionen zu unterwerfen. Die Verantwortung für eine Handlung übernehme ich dann, wenn ich mir die Ursachen meiner Handlung bewusst mache und für die jeweiligen Folgen einstehe. Die Ursachen liegen in der Zukunft und in der Vergangenheit. Vergangene Ursachen liegen in allem Gewordenen auch den eigenen erworbenen Fähigkeiten. Die zukünftigen Ursachen liegen in meiner Vorstellung, wie etwas werden soll. Auch meine Vorstellungen hängen natürlich von meinen gewordenen Fähigkeiten ab. Aber ich werfe sie als Visionen in die Zukunft - wo sie sich mit dem vermählen, was aus der Zukunft auf mich zukommt. Dieses aus der Zukunft auf mich Zukommende (Brotbeck[3] bezeichnet es als Adventus, Heidegger[4] als Geschick) und meine Vision müssen - um nicht utopisch, fantastisch oder illusionär zu sein - so aufeinander zugehen und sich so aufeinander vorbereiten, dass eine Synthese möglich wird. Immer bleiben sie also im Gespräch, der Adventus und meine Vision. Ich muss die Dinge auf die sich mein Handeln bezieht und ihr Werden und Vergehen im Blick haben und verstehen lernen - nur so kann meine Handlung ihr Werden fördern. Die Liebe zu meiner Handlung – und allen ihren Konsequenzen, soweit ich sie zu überblicken in der Lage bin – ist also das Credo einer neuen Ethik. Der Aspekt des Förderns, der im Begriff der Liebe enthalten ist, macht unsere individuelle Handlung auch zu einer guten Handlung.

Erst die Loslösung wie Nietzsche sie beschreibt einerseits in Menschliches Allzumenschliches, andererseits im Zarathustra, befreit uns von moralischen und trieblichen Zwängen. In Momenten, in denen wir aus diesen Zwängen herausschauen, können wir die Erfahrung des aus sich rollenden Rades machen, durch das dem Handeln Leichtigkeit der Beziehung Liebe und dem Denken Fröhlichkeit zur Grundlage wird.



[1] Nietzsche, F. (1999): Also sprach Zarathustra. München/New York: dtv/de Gruyter.

[2] Steiner, R. (1992): Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Dornach: Rudolf Steiner Verlag.

[3] Brotbeck, S. (2005): Zukunft, Aspekte eines Rätsels. Dornach: Verlag am Goetheanum.

[4] Heidegger, M. (2002): Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett-Cotta